Schrei vor Glück!
Die Redaktion des Hernalser Morgenpostillons, Dienst wie immer: streng nach Vorschrift. Einzig sonderbar: ich. Denn auch wenn Wunderlich das neue Sexy ist: es dürfte nicht sein, dass ich vor Natalie über den Laminatboden robbe, Tränen der Verzweiflung auf den nachtbartbestoppelten Wangen, und rotzschluchzend stammle: „Mach es weg, ich flehe dich an, MACH ES WEG!“
„Nix da“, säuselt Natalie, tut einen kräftigen Lungenzug, bläst sich gleichzeitig die frisch lackierten Fingernägel trocken und nippt kokett an der vierten Diätcola dieses Vormittags, „Um 85 Euro? Da müsst mir schon ein 16-Tonner über’n Schädel gebrettert sein, bevor ich mir das Klumpert um DIE KOHLE zuleg.“
Zur Erklärung: Falls Sie, so wie ich, zur hilfsbereiten Hälfte der Menschheit gehören (sprich: zur männlichen), lassen Sie mich Ihnen raten: lassen Sie das! Es bringt nix. Gar nix! Denn genau jene Hilfsbereitschaft war es, die mich letzten Montag auf einen Link klicken ließ, den mir Natalie via E-Mail hatte zukommen lassen. Sie saß zu diesem Zeitpunkt exakt einen Meter entfernt, ein simples „Kommst mal her und schaust dir das an?“ hätte also völlig gereicht. Aber frisch nach dem Wochenende war Natalie nicht so die große Rednerin. Also: E-Mail mit Link. Und mit der schriftgewordenen Aufforderung: „Was denkst du? Welche Farbe würd mir am Besten stehen?“ Neugierig, wie der Mensch nunmal ist, surfte ich den Link an, der mich direttissima zum Zalando-Onlineshop brachte; exakter: auf die Seite des Desigual Jerseykleids TIBET, erhältlich in den Farben „marino“ (für Männer: blau), „verde botella“ (für Männer: grüngraugelbblau) und „schwarz“ (für Männer: „Hey – die kleinen, roten Zebras sind cool“).
Wie gesagt, ich helfe gerne. So ließ ich einen angemessenen Zeitraum verstreichen, in dem ich so tat, als würde ich mir völlig atemlos alle möglichen Farbkombinationen des Ensembles TIBET/Natalie durch den Kopf gehen lassen, und antwortete schließlich (ebenfalls via E-Mail) weltmännisch: „Klarer Fall: SCHWARZ! Ich mag die Zebras!!“ Ich hörte ihr Outlook bimmeln, jedoch verzog sie keine Miene, die mir darüber hätte Aufschluss geben können, dass Sie meine Meinung teilt, was für ein megageiler Styleberater ich doch war. Drei Minuten vergingen. Dann fünf. Nach zehn Minuten hielt ich es nicht länger aus. Per E-Mail: „Na, schreist Du schon vor Glück?????“ Ihre Antwort: „Nöööö, das Teil sieht einfach scheiße aus …“
Aha.
An dieser Stelle hätte diese kurze und amüsante Alltagsepisode ein Ende finden können, wenn, ja WENN ab exakt diesem Zeitpunkt mein Web-Browsers nicht angefangen hätte, renitent zu werden. Denn egal welche Seite ich ansurfte, überall, und ich meine hier buchstäblich ÜBERALL, wartete Jerseykleid TIBET schon auf mich. Es begann auf Facebook: TIBET (raffiniert, Herr Zuckerberg!), amazon: TIBET (warum wurde mir das empfohlen?), danach die Online-Präsenz des Standards: TIBET (pffff, penetrant), das Fernsehprogramm beim KURIER: TIBET (aargh!), Wikipedia: TIBET (wtf?), drehbuchschreiben.org: TIBET (nein!), das Blog der anonymen Nichtraucher: TIBET. Waschelnass durchgeschwitzt entschloss ich mich zur einzig validen Gegenmaßnahme: ich fing an zu sudern.
„Dein deppertes Kleid verfolgt mich durch’s Internet“, polterte ich in Natalies Richtung. Sie sah nicht mal von ihrem Sudoku auf: „Cookies löschen“. Ah. Guter Vorschlag – gesagt, getan! Erfolg: leider Null, Zero, Nada! Chessbase, Wein&Co, die Arbeiterkammer, der PEN-Club, der Playboy, völlig egal: TIBET hatte sich an meine virtuellen Fersen geheftet und war nicht willens von seiner Beute abzulassen. In allerhöchster Not versuchte ich es noch auf der Seite des Vatikans. Dort hatte man zumindest den Anstand, dass sich TIBET in einem eigenen kleinen Werbefenster in den Vordergrund drängte („Kunden, die TIBET kauften, tragen in Gottes Namen auch Prada!“).
„Das mit den Cookies hat nix gebracht“, ich schämte mich, dass meine Stimme ein kleinwenig hysterisch zitterte.
„Hmmm“, machte Natalie. Mehr hatte sie aber leider nicht zum Thema beizutragen. Na gut, grollte ich in mich hinein. Dann wollen wir mal andere Seiten aufziehen …
Hier das Protokoll der nachfolgenden Stunden:
12:30h: Browser neu installieren (Ergebnis: TIBET)
13:45h: Rechner neu aufsetzen (Ergebnis: noch immer TIBET)
15:15h: Anruf bei der Wirtschaftskammer (Ergebnis: „Ha, ha, haben Sie schon mal auf die Uhr gesehen?“. Und: immer noch TIBET)
15:45h: Anruf bei der NSA (Ergebnis: „Moment, dafür sind wir nicht zuständig. Wir verbinden Sie ins Weiße Haus“)
16:15h: Anruf im Weißen Haus (Ergebnis: „Sorry, der Präsident kann im Augenblick nicht mit Ihnen sprechen, der hat gerade Brunch mit dem CEO von Zalando“; und bevor ich es vergesse: TIBET; immer noch)
17:15h: Improvisierte Geiselnahme beim BIPA am Elterleinplatz nebst zeitnaher Inhaftierung und Verbringung in die nächstgelegene Ausnüchterungszelle.
19:45h: ich liege auf der Holzpritsche meiner Zelle. Durch die angelehnte Tür zur Wachstube höre ich leise Radiowerbung: „Zalando …“
23:35h: Rayons-Inspektor Bodenspeck überantwortet mich der kalten Hernalser Nachtluft. „Schlaf dich mal ordentlich aus!“
Das war ein guter Tipp. Am nächsten Morgen baute ich mich vor Natalie auf. „Das Kleid! Ich bin verflucht! Du musst das Kleid kaufen, um den Fluch zu brechen!“
„Bitte, Zwickel“, sie rollte mit den Augen, „hör auf, da rumzuspinnen!“
Ich begann zu schimpfen, zu betteln, zu weinen, zu toben, alles gleichzeitig, aber Natalie blieb hart. Deshalb: Weihnachten kommt ja bald. Falls Sie, werte Leser jemanden kennen, den Sie mit dem wahrlich WUNDERSCHÖNEN Jersey-Kleid TIBET von Zalando verwöhnen möchten, melden Sie sich bitte umgehendst bei mir. Es wäre gratis. Und ich würd schreien vor Glück.
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