Angry Bird
Ein heißer Sonntagnachmittag. Ich lümmle auf einer Bank in der Alszeile im Schatten der Kastanien, bemüht mit dem Dusel Freundschaft zu schließen, den der Frühschoppen in der Alsbachprinzessin in mein Hirn gepflanzt hat. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen schwelge ich ihn wohltuender Blindheit. Vom nahen Friedhof weht ein Duft von verfaulenden Geranien und Kerzenwachs. Ich werde zum Baum. Meine Wurzeln wachsen, wuchern, durchbrechen den Asphalt und wühlen sich gierig in die kühle dunkle Erde. Bald bin ich eins mit meinem geliebten Hernals …
“Du stinkst nach Bier!”
Innert einer Sekunde verdorren meine Triebe. Diese Stimme! Sie klingt jung, viel zu jung, um für mich von Bedeutung sein zu können, weswegen ich mit konsequenter Nichtreaktion reagiere. Das bringt die Stimme bestimmt zum Verstummen. Ich halte die Luft an.
“Meine Oma sagt, dass Tote nicht schwitzen. Du bist also nicht tot.”
Pfeifend entweicht mir der Atem. Gerne würde ich jetzt schreien, habe aber Angst, mich damit selbst zu erschrecken. Stattdessen entweicht meiner Kehle ein Laut, ein Geräusch, dem Grunzen einer Sau nicht unähnlich.
“Ich hab’s gewusst!”, sagt die junge Stimme, ihr Tonfall behagt mir nicht.
Alles in mir wehrt sich dagegen, diesem Zerstörer meiner Sonntagselegie auch nur ein Jota Aufmerksamkeit zu schenken. Aber ich kann nicht anders und schiebe die Mütze hoch. Ich fokussiere auf etwas, das neun, vielleicht zehn, ganz bestimmt nicht elf Jahre alt sein mag. Ein Junge, ein Bub, recht dürr, der Wuschelkopf kastanienbraun, auf der Nase eine recht schlaue Brille. Was mich wirklich irritiert ist sein Blick, so ein intelligentes Geschaue, halb belustigt, halb gespannt. Es ist der Blick von jemandem, so beschließe ich, der fähig ist, die weise und wohlmeinende Empfehlung eines ihm hochüberlegenen Gegenübers anzunehmen. Und so sage ich: “Schleich dich.” Ja, es gibt sie – die Tage an denen ich nicht geliebt werden möchte.
Die Reaktion des Jungen ist jedenfalls verblüffend. Er tut: nichts! Ich suche in seinen Augen nach irgendetwas, nach einem Erschrecken, einer winzigen Furcht, einem Schimmer der Erkenntnis des Unerwünschtseins. Sinnlos. Immerhin, jetzt blinzelt er. Einmal. Zweimal.
“Kennst du Super Mario Kart?”
Kenne ich was? Ist das hier vielleicht doch nur ein bierseliger Traum, in dem ein Außerirdischer, als Erdenkind getarnt, versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen? Ruht mein Kopf in Wirklichkeit noch auf der Theke der Alsbachprinzessin?
“Kennst du Angry Birds?”
Angry? Birds? Die einzigen Vögel, die ich mit Zorn assoziiere, sind die elenden Hernalser Tauben, die mir am Elterleinplatz beim Verzehr einer Leberkässemmel so gerne auf die Schultern scheißen. Wovon also spricht dieses Kind? Eine gemeine, sprachlose Hilflosigkeit keimt in mir.
“Mein Papa hat ein IPhone!”
“Öha”, entfährt es mir, so überrascht bin ich, endlich einen kompletten Satz des Knirpses in seiner gesamten Tragweite verstanden zu haben. Hektisch fummle ich in meinen Jackentaschen herum, suche mein eigenes Telefon.
“Ich auch, ich auch!”, höre ich mich rufen, erleichtert darüber, der menschlichen Zivilisation wiedergegeben zu sein. Ich gehöre also doch noch dazu! Triumphierend halte ich dem kleinen Klugscheißer mein IPhone unter die Nase. Er schielt es kurz an.
“Das ist nur ein 3er.”
Was soll das? Höre ich da Enttäuschung? Verachtung, sogar?
“Das ist ein IPhone!”, insistiere ich aufgeregt wie weiland Humboldt an den Amazonasquellen.
“Aber nur ein 3er”, gibt sich mein neuer liebster Erzfeind störrisch, “mein Papa hat ein 4S!”
Ist das Schamesröte, die mir da heiß unter dem Hemdkragen hervor Richtung Ohren kriecht? 3er, 4er, 4S? Alles Schnickschnack, so denke ich mir. Der Junge seufzt. Etwas zu demonstrativ für meinen Geschmack. Noch ehe ich reagieren kann, schnappt er mir mein IPhone weg, und beginnt darauf herumzufuhrwerken. Fassungslos sehe ich, wie seine Finger, diese kleinen unschuldigen Kinderfinger über das Display huschen, tippen, wischen, ziehen. Ein einziges Mal hält er inne und legt die Stirn in Falten. Irgendwann bekomme ich mein Telefon wieder.
“Ich muss nach Hause.”
Er geht. Lange sehe ich dem Kleinen nach, wie er dem hitzeflirrenden Ende der Alszeile entgegenstrebt. Meine Augen irren hin und her, zwischen ihm und meinem IPhone. Da sehe ich es. Auf meinem ansonsten so asketisch eingerichteten Display hockt ein rotes Vögelein. Täusche ich mich, oder hat es Zorn im Blick? Ein wenig furchtsam, jedoch getrieben von prickelnder Neugier tippe ich den Piepmatz an.
Seit jenem heißen Sonntagnachmittag trifft man mich oft auf derselben Bank an. Ich sitze dort und warte mit großer Unruhe im Herzen, ob der kleine Junge vielleicht wieder auftaucht. Ist er doch der einzige Mensch auf dieser Welt, der mich erlösen kann, der einzige, der wieder Frieden in mein Leben voller böser Vögel und arroganter Schweine bringen kann. Der einzige, der mein Apple-Store-Passwort kennt.
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