Ganz egal, ob Schwarz, ob Weiß (3)
Eine Woche ist es her, dass ich den Tischtennispensionisten den Rücken gekehrt habe und bei den Schachspielern herumlungere. Ich bin ein Fahnenflüchtiger. Meine Freundschaft mit Lumpi Lamprecht hat einen herben Dämpfer erhalten. Lumpis Sitzfleisch ist der relativen Bewegungslosigkeit, die dem Schachspiel so eigen ist, einfach nicht gewachsen. Er hat das Handtuch geschmissen und ist bereits nach zwei Tagen reumütig ins Tischtennislager zurückgekrochen. Ich bin aus einem ganz anderen (einem bewegungslosen!) Holz geschnitzt, auch wenn mir beim Gedanken an Gerlindes Schnitzelsemmeln und den köstlichen Erdäpfelsalat die Tränen in die Augen steigen. Solche Zeichen menschlicher Zuneigung kann ich mir bei den Schachspielern völlig abschminken.
Das hat zwei Gründe.
A) Männer. Die Belegschaft beim Schach setzt sich zu 100 Prozent aus Männern zusammen. Weiblich Wohlmeinendes manifestiert sich ausschließlich aus der Ferne und in Form von stanniolumwickelten Eierspeisbroten und Menagereindln, die mit Augsburgern und Reis gefüllt sind. Gerade so, wie ich sie noch aus meiner Zeit im Kindergarten kenne.
B) Es interessiert keine Sau. Die Welt des Schachspielers ist klein. Sie endet genau an der ihm gegenüberliegenden Kante des Schachbretts, und was dahinter liegt ist eine für ihn abstrakte Entität, deren einzige Aufgabe es ist, Schachzüge zu produzieren. Wenn man Glück hat: schlechte Schachzüge. Die so geschaffene Atmosphäre der Entmenschlichung übt eine wilde Faszination auf mich aus. Scheiß also auf die Schnitzel und pfeif auf den Erdäpfelsalat!
Eines ist allerdings schlimm: ich bin hier nur Zuschauer. Der Gedanke, einer der hier lustwandelnden Titanen würde auch nur eine Sekunde darauf verschwenden, sich mit mir am Schachbrett auseinanderzusetzen, ist völlig lächerlich. Gerne bleibt man unter sich, ein dreizehnjähriger Pimpf wird jedoch geduldet. Hauptsache, er macht den Mund nicht auf. Zum Glück hat mich das Leben bereits vor Jahren auf all das hier vorbereitet. Die Regeln des Schachspiels lernte ich mit zehn Jahren. Ein damals bei uns daheim ein- und ausgehender Onkel Wickerl nervte mich solange damit, mit ihm Schach zu spielen, bis ich ihn tatsächlich einmal, und das wirklich nur aus reinem Zufall, schlagen konnte. Danach war das Thema vom Tisch. Meine Oma, angefüllt mit einer tiefsitzenden Antipathie gegen den Onkel Wickerl, war stolz auf mich und machte mir Äpfel im Schlafrock.
Die Hierarchien in der Schachszene sind klar geregelt. Ähnlichkeiten zum indischen Kastensystem sind ebenso zufällig wie frappant. Ein kurzer Überblick (die indischen Fachbegriffe werden zur besseren Orientierung jeweils in Klammer angegeben):
Zuschauer und Kiebitze (Unberührbare): ich bin ein Zuschauer; einzige Aufgabe des Zuschauers ist es, allfällig vorbeiziehenden Spaziergängern den Eindruck zu vermitteln, das Schachspiel sei insgesamt doch eh eine ganz liebe G‘schicht, bei der die Leut‘ gemütlich zusammenkommen und miteinander Spaß haben. Da ich in meiner Rolle aber nicht reden darf, besteht keine Gefahr, dass dieser Irrtum jemals aufgeklärt wird. Ganz anders der Kiebitz. Er unterscheidet sich vom Zuschauer durch die unerfreuliche Tatsache, dass er spricht. Vielmehr: er kommentiert. Von einem tiefsitzenden Glauben erfüllt, er verstünde etwas vom Spiel, ist er überzeugt, dass bereits seine bloße Anwesenheit Glück und Freude in die Herzen der eigentlichen Spieler bringt. Der Kiebitz wird von allen anderen Kasten gehasst.
Wurzen (Bauern): die erste Kaste, die tatsächlichen Zugang zum Schachbrett erhält. Die Wurze zeichnet sich durch eine völlige Abwesenheit von Ehrgeiz aus, sie spielt „zum Spaß“, Niederlagen tut sie mit einem Achselzucken ab, und macht in der nächsten Partie die exakt selben Fehler noch einmal. Wurzen bleiben gerne unter sich. Sie können es nicht leiden, von Außenstehenden über verschiedene barocke Regeln – etwas das Schlagen „en passant“ – belehrt zu werden, die dem Schachspiel eigen sind. Eine große Schwäche der Wurze ist, dass sie immer wieder auf den Kiebitz hört, und sich danach wundert, wenn sie in der Partie übel aufs Maul bekommt.
Spieler (Fürsten): die erste Stufe am Weg zur Erleuchtung; der wahre Spieler beherrscht die Schachregeln im Schlaf und verfügt über einen erweiterten Sprachschatz, der ihm hilft, sich von den Wurzen abzuheben (z.B. „berührt, geführt!“, „Springer am Rand ist eine Schand“, usw.). Die Zeichen seines Standes sind die eigene Schachgarnitur, die der Spieler allzeit mit sich führt, und eine Thermoskanne, gefüllt mit schwarzem Kaffee. Ziel des Spielers ist es, zu gewinnen, und zwar egal wie. Jeder Spieler schöpft aus einem umfangreichen Fundus an Ausreden, falls wieder einmal eine Partie verloren geht (z.B. „das Brett ist zu klein“, „die Sonne hat mich geblendet“ oder „mit so einem Muskelkater sollte ich gar nicht spielen“). Gegen allfällig über seiner Stellung flatternde Kiebitze setzt sich der Spieler vehement zur Wehr: „Geh Kiebitz, jetzt halt doch endlich deine depperte Gosch‘n!“
Schachmeister (Priester, Gelehrter): der Schachmeister ist ein seltenes Tier; im Donaupark lässt er sich kaum blicken, geschweige denn sieht man ihn dort seiner Passion nachgehen. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen der Schachmeister dann tatsächlich zugange ist, bildet sich sofort ein enger Kordon aus Anbetern und Jüngern um das Schachbrett, die atemlos den kryptischen Wortspenden ihres Messias entgegenfiebern. So gleicht etwa ein gemurmeltes „Ah ja, Fischer gegen Spasski, Reykjavik 1972, vierte Partie“ dem Spenden eines heiligen Sakraments. Die Umstehenden sehen sich wissend an und nicken, jeder fühlt sich erleuchtet und keiner gibt zu, nicht die geringste Ahnung davon zu haben, was er eben gehört hat. Wurzen und Spieler berichten übereinstimmend, wider besseren Wissens ausschließlich schlechte Züge zu produzieren, kaum dass der scheele Blick eines Schachmeisters auf ihr Brett fällt. Selbst Kiebitze schweigen, sobald sie den Weg des Schachmeisters kreuzen. Andernfalls würden sie riskieren zu Staub zu zerfallen.
Fortsetzung folgt
5 Antworten
[…] Teil 3: Der Unberührbare […]
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