Ganz egal, ob Schwarz, ob Weiß (7)
Gerne würde ich an dieser Stelle eine Heldengeschichte erzählen. Etwas in der Art vom ermatteten Soldaten, der in allerhöchster Not mit seinem letzten Pfeil den feindlichen General niederstreckt und die längst verloren geglaubte Schlacht noch wendet. Damit kann ich aber nicht dienen. Andere Analogien passen besser. Etwa die von Wile E. Coyote, der von den listigen Roadrunnern wieder einmal ausgetrickst, mit vollem Karacho durch eine geschlossene Tür kracht, eine fein säuberliche Silhouette seiner selbst im Holz hinterlassend. In dieser Geschichte bin ich die Tür, und das Loch in mir hat die Form eines tattrigen jugoslawischen Pensionistenopas mit Gehstock.
Der alte Jugo fegt über mich hinweg, dass mir schwindlig wird. Dabei denkt er kaum über seine Züge nach, feuert buchstäblich im Sekundentakt eine Salve nach der anderen auf meine immer erbärmlicher aussehende Stellung ab. Nach nicht einmal fünf Minuten umtanzen seine Figuren, die Springer, die Dame, ein Turm, meinen hilflosen König. Der Rest meiner Mannschaft, irgendwo über das Brett verstreut, sieht hilflos dabei zu, wie ihrem Monarchen grausam das Lebenslicht ausgeblasen wird. Einen Wimpernschlag später ist alles vorbei. Ich verstehe im ersten Augenblick nicht, warum mir der Alte plötzlich die Hand entgegenstreckt, sondern schaue ihn nur blöd an. Der neben mir sitzende Liebling springt helfend ein: „Du bist schachmatt, Burschi.“
„Oh“, meine Ohren glühen. Diese Schande! Gedemütigt schüttle ich dem Opa das zitternde Händchen. Die Augen von tausend kleinen Fältchen umwölkt lächelt er mich an: „War Spaß, oder?“ Ich schaffe es nicht, zu nicken.
An den anderen Brettern geht es noch hoch her. Aber nicht lange, da muss auch der Liebling die Waffen strecken, und irgendetwas zerbricht in mir. Bis jetzt hatte ich meine Kapazunder für unbesiegbar gehalten. Nun werde ich eines Besseren belehrt. Die Jugoslawen sind die wahren Schachgiganten, die über die Erde wandeln, und sie sind nicht hier, um Gefangene zu machen. Zum Glück ist es aber doch nicht ganz so schlimm, denn sowohl der Tankwart als auch der Husterer gehen siegreich aus ihren Partien hervor, und der lange Böhm befetzt sich so derart intensiv mit seinem Gegenüber, dass irgendwann jeder der beiden nur noch mit einem nackten König dasteht, was soviel heißt wie Unentschieden.
Und so muss dieses epische Ringen zwischen den Kapazundern und den Jugos am ersten Brett entschieden werden, wo der Professor es mit Branko zu tun hat. Alle Anwesenden versammeln sich um das letzte Brett auf dem noch gekämpft wird. Man kann die Spannung in der Luft mit einem Löffel schöpfen. Branko und der Professor scheinen, soweit ich Waserl das beurteilen kann, einander ebenbürtig zu sein. Ein Blick auf das Brett zeigt beide Armeen, eng an eng miteinander verzahnt. Branko denkt eine Ewigkeit über seinen nächsten Zug nach, der Professor sitzt völlig regungslos und hoch konzentriert da, und lässt seinen Gegner keine Sekunde aus den Augen.
Nervös wippe ich auf den Zehenspitzen und kaue auf meinem Daumennagel herum, als der Liebling mir zuflüstert: „Keine Panik. Der Professor war mal ein starker Landesligaspieler.“ Ich kann mit dieser Information nichts rechtes anfangen, aber irgendwie klingt sie beruhigend. ‚Landesliga‘, das Wort allein riecht schon nach Kompetenz und Sicherheit.
Da plötzlich, wie aus dem Nichts schießt Brankos Hand vor, greift einen Springer und knallt ihn in unmittelbarer Nähe zum König des Professors wieder aufs Brett. „Oj“, höre ich den langen Böhm murmeln, und kann es sein, dass die Halbglatze des Professors gerade eine rötliche Schattierung angenommen hat? Der Husterer hustet vernehmlich, und der Tankwart, der sich unmittelbar hinter dem Professor aufgebaut hat, greift ganz beiläufig in die Brusttasche und fördert einen mächtigen Flachmann zu Tage. Er schraubt ihn auf und nimmt ein Schlückchen.
„Ah“, sagt der Tankwart genießerisch, dann – und diese Geste kommt mir in diesem Augenblick ganz und gar unglaublich vor – hält er dem Professor den Flachmann hin. Der schaut nur kurz auf, schüttelt den Kopf und sagt: „Danke, hab meinen eigenen.“ Zum Beweis öffnet er seine lederne Aktentasche und fördert eine dickwandige Schnapsflasche zutage, die er langsam aufschraubt, um danach einen genießerischen Schluck zu tun. „Der beste Slibowitz, den man sich vorstellen kann“, sagt er zum Tankwart und lächelt.
Branko ist dieser kurze Austausch nicht entgangen. Er sieht die Slibowitzflasche an. Ein Hauch von Sehnsucht legt sich über sein Gesicht, der Professor schenkt ihm aber gar keine Beachtung. Nicht so der Tankwart, der weiß, was sich gehört, und der Branko jetzt mit einem aufmunternden Nicken den Flachmann hinhält. Branko strahlt. Er nimmt den angebotenen Schnaps und tut einen tiefen Zug. Ein genießerisches Schnalzen mit der Zunge, und als Branko den Schnaps zurückgeben will, winkt der Tankwart ab: „Passt schon“.
Der weitere Verlauf der Partie gestaltet sich rustikal. Jeder gemachte Schachzug wird von einem Schlückchen aus den Flaschen begleitet. Nicht lange, und man merkt beiden Spielern die inspirierende Wirkung des Slibowitz an. Branko hat ein seliges Grinsen auf den Lippen und der Kopf des Professors wiegt sich im Takt einer Melodie hin und her, die er leise vor sich hin summt, der Donauwalzer vielleicht. Vom Schnaps beflügelt startet Branko einen gefährlichen Königsangriff. Er opfert eine, dann eine zweite Figur, um der gegnerischen Majestät schnell und brutal den Garaus zu machen. Der Professor kontert mit Eleganz (und einem weiteren großen Schluck aus der Flasche), und nach nur fünf weiteren Zügen steht fest: Branko hat Haus und Hof verspielt und steht vor den Trümmern des eigenen Mutes. Sehr traurig darüber ist er nicht. „Ha, ha“, man hört schon einen kräftigen Zungenschlag heraus, „so schöne Partie!“.
Er streckt die Hand zum Zeichen der Aufgabe aus, und sinkt im nächsten Augenblick wie in Zeitlupe von der Bank auf den Boden, begleitet vom Gejubel der Kapazunder, die alle gleichzeitig dem Professor auf die Schultern klopfen wollen. Der streckt sich einmal ordentlich durch, ehe er vorsichtig aufsteht. Er kommt zu mir herüber. „Auch ein Schluckerl?“, fragt er und hält mir seine Slibowitzflasche hin, in der nur noch ein Maulvoll drinnen ist. Ich bin so verdattert, dass ich gar nicht groß nachdenke, als ich die Flasche nehme und in einem Zug austrinke. Ich fühle mich erwachsen, jedenfalls bis zu dem Moment, in dem mir der Geschmack des Schnapses einfährt. Er schmeckt nach gar nichts. Es ist Wasser! Der Professor steht mit hochgezogenen Augenbrauen vor mir, seine Augen leuchten listig. „Gut, oder?“
„Ja“, sage ich, „sehr gut sogar!“ Ich muss lachen.
„Oida“, höre ich da hinter mir. Ich drehe mich um. Lumpi Lamprecht schaut entgeistert auf die leere Slibo-Flasche in meiner Hand. Lumpi hat in den letzten Wochen so etwas wie Muskeln an den Wadeln und Oberschenkeln entwickelt, und ich bemerke einen zarten Bartflaum der jetzt seine Oberlippe ziert. In der Wahrnehmung meines dreizehnjährigen Hirns haben wir uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, auch wenn erst drei Wochen vergangen sind, seit ich den Tischtennispensionisten den Rücken gekehrt habe.
„Magst Tischtennis spielen?“, fragt Lumpi. Ich zögere.
„Können wir machen“, sage ich schließlich.
„Perfekt“, sagt Lumpi, „Die Gerlinde hat Fleischlaberln gemacht.“
„Super“, sage ich, denn ich habe schon großen Hunger.
Als sich Lumpi und ich, langsam die Fahrräder schiebend, Richtung Tischtennisplatz davonmachen, höre ich noch hinter mir: „Die Jugos wollen eine Revanche. Kommt mein Liebling eh wieder?“
ENDE
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