Ganz egal, ob Schwarz, ob Weiß (6)
In der Nacht schlafe ich wenig. Im Angesicht der bevorstehenden Schlacht klopft mein Herz bis zum Hals. Die Kapazunder hatten sich gestern noch mit den Jugos auf die Bedingungen des Kampfes geeinigt. Ein Mannschaftswettkampf, sechs gegen sechs, die Gewinnermannschaft erwirbt sich auf alle Zeit das Recht auf das große Freiluftschach. Bei Unentschieden wird man weitersehen.
Im Gegensatz zu den Kapazundern fällt es mir schwer, so etwas wie Grant oder gar Ärger wider die Jugoslawen zu empfinden. Die wirken allesamt ziemlich entspannt, und ich glaube, dass ihnen gar nicht bewusst ist, dass sie hier im Donaupark in feindliches Territorium vorgestoßen sind. Sie sind bloß hier, um eine gute Zeit zu haben.
Einen der Jugos, die anderen nennen ihn Branko, kenne ich sogar. Mit meiner Oma war ich öfters am Schlingermarkt gewesen. Dort hatte Branko einen Obst- und Gemüsestand, bei dem die Oma immer gerne eingekauft hatte. Ihre Worte habe ich noch im Kopf. „Die Tschuschn sind nicht so geizig, wie die Hiesigen“, sagte sie immer, wenn ihr Branko mal wieder eine Extrazwiebel in den Korb gelegt oder mir eine Mandarine geschenkt hatte.
Als sich die beiden Mannschaften am Vormittag im Donaupark einfinden, werden Picknicktische von Taubenscheiße gereinigt, Schachbretter aufgebaut, und Spielsteine säuberlich in Stellung gebracht. Genau wie bei den Kapazundern ist der Umgang der Jugos mit dem Spielmaterial von einer tief verinnerlichten Eleganz, die vom jahrzehntelangen und häufigen Umgang mit Brett und Figuren herrührt. Es hat etwas Magisches, den alten Herren dabei zuzusehen, wie sie in Blitzgeschwindigkeit und ohne großartig darüber nachzudenken, die Figuren auf die ihnen angestammten Plätze platzieren.
Der Professor ist eine natürliche Führungspersönlichkeit und keiner der Kapazunder zweifelt auch nur eine Sekunde daran, dass er unser Mannschaftsführer sein muss. Bevor es losgeht, ziehen sich beide Parteien noch ein allerletztes Mal zurück. Der Liebling macht Meldung: „Herr Professor, alle Lieblinge vollzählig angetreten!“ Der Professor lächelt: „Sehr schön.“ Er wirft einen, wie es mir vorkommt, bedeutsamen Blick in die Runde. „Meine Herren, mit den jugoslawischen Kollegen ist nicht zu spaßen. Ich erwarte mir, dass sich jeder an das hält, was wir gestern besprochen haben!“ Grimmige Blicke und allgemeines Nicken, außer von mir. Siedendheiß wird mir bewusst, dass ich keine Ahnung habe, was gestern besprochen wurde. Zu mir hat niemand etwas gesagt, mit mir hat niemand geredet! Der Professor sieht meinen hochroten Kopf, klopft mir aufmunternd auf die Schulter und sagt: „Alles gut.“
Die Mannschaften nehmen die Plätze ein. Ich werde vom Professor an das letzte Brett geführt und mit einem tröstlichen „Toi, toi, toi“ hingesetzt. Das letzte Brett, so lerne ich jetzt, ist in Mannschaftskämpfen immer den schwächsten Spielern vorbehalten. Ich finde das in diesem Augenblick nur recht und billig. Am ersten Brett (das Meisterbrett) nimmt der Professor selbst Platz, danach folgen der Tankwart, der lange Böhm und der Husterer. Neben mir lässt sich ächzend der Liebling nieder. „Na, schauen wir mal“, keucht er.
Mein Gegner ist ein gehstockbewehrtes Männlein, dürr und kleiner selbst als ich, gegen das sich auch der Liebling wie ein junger Hüpfer ausnimmt. Ich schaue zu, wie der Alte zittrig ein allerletztes Mal seine Figuren zurechtrückt und verdrehe innerlich die Augen. Natürlich habe ich es hier am letzten Brett mit einem Niemand zu tun, einem Nichtskönner, der, genau wie ich, nur als Kanonenfutter herhalten muss.
Das Männlein hält mir plötzlich seine dürre Hand entgegen. Zuerst bin ich verwirrt – möchte er sich verabschieden? Dann sehe ich, dass an allen anderen Brettern ebenfalls Hände geschüttelt werden, eine Begrüßung, ein stummes ‚auf ein gutes Spiel‘. So ergreife ich die mir angebotene Hand des Gegners. Sie ist eiskalt. Eine schreckliche Sekunde lang bin ich versucht, so fest zuzudrücken, wie ich nur kann, aber der Moment verfliegt wieder.
Und noch etwas ist neu: es wird nicht gesprochen. Kein Scherzwort, keine Neckerei, kein Gehänsel ist zu hören. Die Zeit der Bonmots ist vorbei und alle brüten schweigend über ihren Stellungen.
Es hat begonnen.
Fortsetzung folgt
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[…] Teil 6: Die Ehre alter Männer […]