Lauter, bitte!

Eines steht fest: Körbler hasst mich. Er besucht jede meiner Lesungen und stets setzt er sich in die letzte Reihe, von wo er mich durch seine Hornbrille beobachtet. Ab und an senkt er den Blick, immer nur kurz, immer nur, um ein wenig gekritzeltes Gift in ein abgegriffenes Notizbüchlein zu träufeln. Körbler ist Literaturkritiker. Kein namhafter, keiner vor dessen Urteil auch nur der allerletzte dauerbetrunkene Mundartdichter in die Knie gehen müsste. Nur mich hat er an den Eiern. Körbler legt allergrößten Wert darauf, bei jeder Lesung als erster im Saale zu sein. Ich soll ihn sehen, soll ihn so früh wie möglich wahrnehmen, um an seinem Gesicht abzulesen, wie sehr er es genießt, mich schon in Panik zu versetzen, noch bevor ich die erste Silbe vorgetragen habe. Aber es genügt ihm nicht, bloße Präsenz zu zeigen. Jedesmal, noch im ersten Satz, den ich wage gen Publikum zu sprechen, kommt wie das Amen im Gebet sein „Lauter, bitte!“. Und es ist ihm völlig egal, dass ich die Tonanlage bereits vorausschauend auf absolutes Maximum justiert habe, und es den Leuten in den ersten Reihen die Haare büschelweise von den Köpfen weht. Immer: „Lauter, bitte!“. Körbler schreibt für die „Währinger Welt“, und seine einstmals zur Lautstärkecausa veröffentlichten Worte haben sich mir auf ewig ins Hirn gebrannt: „Der Vortragende, der gleichzeitig vorgibt Autor zu sein, hat ein Nuschelproblem, dem er und sein zartes Stimmchen nichts entgegenzusetzen haben. Sollten Sie, werte Leser, also mit Hörproblemen zu kämpfen haben, empfehle ich Ihnen an dieser Stelle: bleiben Sie dem Zwickel fern.“ Diese Arschnase!

Inzwischen habbe ich mich in der Angelegenheit Körbler konditioniert. Sobald er am Veranstaltungsort erscheint (zumeist ein gemütliches Wiener Vorstadtetablissement, darauf lege ich großen Wert!), und mich mit einem süffisanten „Mahlzeit!“ grüßt (ja: Mahlzeit, für Körbler scheint es immer mittags zu sein), bestelle ich reflexartig irgendetwas Hochprozentiges, und das auf doppelt. Körbler macht sich diese, meine Marotte jedoch auf niederträchtigste Art zunutze. So verarschte er mich an einem Abend damit, dass er geschlagene sechsmal das Lokal betrat, wieder verließ, und es („Mahlzeit!“) wieder betrat. Diese Lesung war kein großer Erfolg. In der „Währinger Welt“ las ich danach: „Der Vortragende, der gleichzeitig vorgibt Autor zu sein, wirkte am gestrigen Abend insgesamt ein wenig indisponiert. Zu seinem uns allen leidvoll bekannten Nuscheln gesellte sich auch noch ein dem Vortrage wenig dienliches Lallen. Die von Zwickel so heißgeliebten Schachtelsätze wurden damit für das ohnedies nur spärlich anwesende Publikum zu einer Geisterbahnfahrt des lautmalerischen Holperns und Stolperns.“ Dieser Hundsfott!

Ich versuche meine Lesungen vor Körbler zu verstecken. Den Kartenvorverkauf habe ich inzwischen selbst in die Hand genommen, jeder potentiell interessierte Käufer muss sich bei mir persönlich legitimieren (Reisepass, Impfzeugnis, Stammbaum und Jahreskarte bei den Wiener Philharmonikern genügen mir in der Regel; die Kosten für die notariell beglaubigte Verschwiegenheitserklärung werden fair geteilt). Für den Online-Verkauf habe ich mir ein narrensicheres System ausgedacht, bei dem eine 512Bit-Verschlüsselung, der Fingerabdruck von Edward Snowden und ein Proxyserver auf den Bahamas eine zentrale Rolle spielen. Jeden meiner Facebookfreunde, der es wagt, auch nur in einem Nebensatz eines Statusupdates eine meiner Lesungen zu erwähnen, verbanne ich rücksichtslos aus meinem Online-Gesichtsfeld (Entschuldige Mutter, aber ich habe dich dreimal gewarnt). Dennoch muss ich gestehen: meine Sicherheitsmaßnahmen haben auch Nachteile. Zum einen kommt kein Schwein mehr, um mich lesen zu sehen, zum anderen, und dies ist viel ärgerlicher: Körbler kommt dennoch.

Jetzt sitzen Körbler und ich ganz alleine im Saal. Er, wie üblich in der letzten Reihe, ich kann das hasserfüllte Funkeln seiner Hornbrillengläser sehen. Lange sage ich gar nichts, die ganze Situation soll für ihn zur Peinlichkeit geraten. Aber Körbler ist immun gegen Peinlichkeiten, auch das unterscheidet uns. Schlißlich knicke ich ein. „Warum?“, röchle ich ins Mikro. Körbler: „Lauter, bitte!“, und jetzt verliere ich den letzten Rest an Selbstachtung und schluchze (so laut ich eben schluchzen kann): „Warum hasst du mich so?“ Körbler sieht mich an, zehn Sekunden lang, zwanzig Sekunden lang, eine Minute vergeht, ehe er genau ein Wort sagt: „Magdalena“. Danach steht er auf und geht.

Körbler und ich haben eine gemeinsame Vergangenheit, die bald dreißig Jahre zurückliegt. Der Maturajahrgang ’88 vom Parhamerplatz, eine wilde Mischung. Mittendrin der Zwickel, aufgeblüht in seiner Rolle als erster Rührlöffel dieser Mischkulanz. Ebenfalls zugegen: Körbler, ein guter Schüler, ein g’scheiter Bub, eher introvertriert, ein Einserkandidat. Oder anders formuliert: das volle Opfer. Das größte Problem des Körblers hörte auf den flauschigen Namen Magdalena Windstill, ja, so etwas soll vorkommen. Sie war nicht unbedingt eine Schönheitskönigin, aber sie hatte was. Ihre Plüschaugen konnten die Burschen schon nervös machen. Den Körbler jedenfalls machten sie durch und durch deppert, seit der vierten Klasse war er schon in sie verliebt, aber die oben erwähnte Introvertiertheit erwies sich in der Angelegenheit dann doch stets als zu großes Hindernis. Aber das Maturajahr schien sich dann für den Körbler doch noch auszuzahlen. Es ist ja nicht wirklich ungewöhnlich in Teenagerkreisen: da können zwei Menschen jahrelang im teils echten, teils gespielten Wurschtigkeitsmodus nebeneinander herrödeln, irgendwann einmal fahren dann einfach doch die Hormone ein, wie amerikanische Langstreckenraketen, und fordern ihr Recht. Und genau das passierte der Magdalena und dem Körbler, und groß war die Überraschung in der Klasse, als bekannt wurde, dass heute Abend, ja genau heute Abend die Windstill und der Körbler (Unglaublich, oder? Der Körbler mit seiner doofen Hornbrille, haha!) sich zum ersten romantischen Stelldichein verabredet hätten.

Ich selbst befand mich zu jener Zeit in einer Phase des Nichterwachsenwerdenwollens, die sich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, am Besten mit „Arschlochperiode“ betiteln lässt. Eine Menge an Bockmist habe ich damals abgesondert, und nur allzu wenig Schlaues, und ganz bestimmt gar nichts Liebenswertes zustande gebracht. Noch heute werden meine Wangen ein kleinwenig rot, wenn ich an diese Zeit zurückdenke, aber war mir das damals wurscht? Oh ja, aber sowas von! Und was ein echtes Teeniearschloch ist, den lassen so Geschichten, wie die sich zart anbahnende „amour fou“ zwischen dem Fräulein Windstill und dem Körbler (dem Opfer!) ganz und gar nicht kalt. Nahezu eifersüchtig wurde ich, als ich vom geplanten ersten Date der beiden erfuhr, denn, Gfrastsackl hin, Arschgeige her, Plüschaugen waren auch eines meiner Lieblingshobbies damals. Um die Geschichte abzukürzen: ein finsterer Plan wurde entworfen, an willfährigen Komplizen mangelte es mir damals nicht, und es stellte sich heraus, dass es nicht mehr als einer nervösen Blase (möglicherweise in freudiger Erwartung eines Rendezvous), einer letzten Schulstunde, einer Toilettenkabine und eines Nylonstrickes bedurfte, um eine Liebe abzutöten, noch ehe sie überhaupt zu leben begonnen hatte. Körbler verbrachte die ganze Nacht auf der Schultoilette, in der wir (nein: ich!) ihn eingesperrt hatte(n), sein Treffen mit Magdalena fand niemals statt. Auch zu einer Neuauflage kam es nicht, das verbat der Stolz dem Fräulein Windstill, eine Liaison mit einem, der eine ganze Nacht auf einer Toilette festgesetzt war, konnte sie selbst vor ihren aller-, allerbesten Freundinnen nicht rechtfertigen.

Ich kenne eine Menge Leute. So habe ich bereits vor Jahren Susi auf Facebook wiedergefunden, Susi Knapp. Susi war die Klassensprecherin des Maturajahrgangs ’88 des Parhamerplatzes. Und Susi kennt Anna, Anna kennt Monika, Monika kennt Andreas und Andreas weiß etwas. Er weiß nämlich, wo Magdalena Windstill abgeblieben ist. Es hat sie lebensmittelpunkttechnisch ans gänzlich andere Ende von Wien verschlagen, und ohne zu sehr ins Detail zu gehen: ein Fluss muß überwunden werden, um zu Magdalena vorzudringen. Und genau das tue ich. Davor besorge ich mich mir noch einen recht aufgebracht wirkenden Körbler, den ich vor dem Eingang der „Währinger Welt“ abpasse und den ich recht nonchalant in ein Taxi bugsiere. „Wen rufst du an?“, frage ich, als er hektisch an seinem Telefon herumfingert. „Die Polizei, das ist doch ganz klar eine Entführung, aber damit kommst du nicht durch!“ „Körbler“, sage ich sanft, während ich ihm (weniger sanft) das Telefon entwinde und es aus dem Autofenster werfe, „sei bitte nicht kindisch!“ Körbler geht in eine Art verzweifelten Schmollmodus. „Schicke Brille übrigens“, sage ich, als wir an der UNO-City vorbeikommen. Zwanzig Minuten später sind wir am Ziel, der Stadtrand, irgendwie ganz idyllisch mit seinen Reihenhaussiedlungen, aber doch auch gruselig. An der Adresse, die mir Susi via Anna via Monika via Andreas gechecked hat, läute ich an. Körbler habe ich mir fest unter den Arm geklemmt (ein bissl was opferartiges hat er ja sogar heute noch). Die Tür geht auf und tatsächlich: Plüschaugen!

Körbler wird von mir seinem Schicksal überantwortet. „Da hast ihn“, sage ich, „er ist quasi wie neu. Und“, hier kratze ich mich verlegen an der Nase, „das von damals tut mir total leid. Arschloch halt, eh schon wissen!“ Aber weder die Windstill noch der Körbler interessieren sich besonders für mein Gefasel. Ehrlich: bummzack, verliebtes Plüschaugengeschau, man glaubt es kaum. Und dann der absolute Burner: die Windstill zieht den Körbler zu sich ins Haus hinein, und ich höre die beiden miteinander tuscheln. „Nein, du … aber ja, Wahnsinn, gut schaust aus … du aber auch …“ Leider verstehe ich nicht alles, aber egal, ich weiß wann ich mich dezent zu verhalten habe. Naja, meistens jedenfalls, und so rufe ich zum Abschied noch hinein: „Lauter, bitte!“

 

(pa)

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