Kurzer Prozess
Der Chefredakteur des Hernalser Morgenpostillons ist ein weiser Mann. Seit nunmehr 40 Jahren lenkt er mit Umsicht und journalistischem Gespür für das Unwesentliche die Geschicke der Zeitung. Ein Vollprofi, dem niemand etwas vormachen kann, einer, der schon alles gesehen hat. Gut, hin und wieder frägt er uns nichtsnutzige Redakteure, ob wir denn auch hundertprozentig sicher seien, dass diese seltsamen Dinger, die wir im Fachjargon gerne als „Keyboard“ bezeichnen, tatsächlich ganz ohne Farbbänder auskommen, aber in diesen Momenten senken wir einfach demütig die Häupter und lassen vier gern gerade sein.
Einen Monat ist es her, seit dieser Titan des Zeitungswesens die Belegschaft des Morgenpostillons um sich versammelte, und mit gramzerfurchter Stirn verkündete: „Unsere Qualität ist scheiße!“ Ein Raunen ging durch das anwesende Reporterpublikum, einzelne Wortfetzen waren zu hören, etwa „Welche denn genau?“, oder „I hab gleich g’sagt, dass Horoskope viel zu retro san!“
„Was uns hier fehlt“, fuhr der Chefredakteur ungerührt fort, „ist ein rigides Qualitätsmanagement. Ich habe mich deshalb entschlossen, unsere bestehenden Strukturen“, und an dieser Stelle täuschte er einen Hustenanfall vor, „einer kritischen Analyse zu unterziehen, und die komplette Prozesslandschaft des Hernalser Morgenpostillons dramatischen Reformen zu unterwerfen!“ Ich sah mich vorsichtig um, und bemerkte, dass gut die Hälfte der anderen Redakteure mit ihren Gedanken zwischenzeitlich ganz woanders weilten. Raimann vom Sport etwa, säuberte seine Fingernägel, Kollegin Natalie textete verbissen in ihr Smartphone hinein, und die alte Schubert vom Kulturressort hatte begonnen, den Pulli, an dem sie seit November so hingebungsvoll gestrickt hatte, wieder aufzutrennen.
Der Chefredakteur jedoch ließ sich nicht beirren. „Das hier“, und er hielt einen mysteriösen Zettel in die Höhe, „wird dem Morgenpostillon wieder zu alter Größe verhelfen! Ich gehe davon aus, dass sich jeder der Anwesenden ab sofort an diese Richtlinie hält, andernfalls …“, er vollendete den Satz nicht, stattdessen bleckte er seine makellosen Dritten, ehe er wieder in sein Büro entschwand. „Geh scheißen“, murmelte Natalie, und es war unklar, ob sie damit ihren SMS-Partner, oder unseren Gottobersten meinte. Ich nahm den Zettel und begann vorzulesen:
„Eine Zeitung ist ein fragiles Kunstwerk, gefertigt aus Bausteinen, deren Qualität unmittelbar zum Erfolg des Gesamtwerkes beiträgt. Um diese Qualität auch weiterhin auf dem allerhöchsten Niveau zu halten, sind ab sofort neue Artikel, Kolumnen, Berichte, Rezensionen, etc. dem neuen ‚Changeboard des Hernalser Morgenpostillons‘ (kurz CHM) in Form eines sogenannten ‚Request for Change‘ (kurz RfC) vorzulegen. Ein solcher RfC ist über das Redakteursportal des Morgenpostillons online abrufbar und muss spätestens 72 Stunden vor geplantem Veröffentlichungstermin eingereicht werden. Erst nach Freigabe durch das CHM ist es erlaubt, den zu veröffentlichenden Text in unser Content Management System einzubringen.“
Kurze Stille bei meinen Zuhörern, danach prustendes Gelächter und allseitige Heiterkeit. Aber das Lachen sollte uns allen schon bald vergehen. Als erstes erwischte es Raimann, der eine Woche unbezahlt dienstfrei gestellt wurde, nachdem er versucht hatte, einen Artikel über das Jänner-Preisschnapsen in der Alsbachprinzessin am CHM vorbei in die Zeitung zu schmuggeln. Natalie erging es nicht besser. Zwar brachte sie ihre Enthüllungsstory über das Strickwarengeschäft „Fatimas Fadenparadies“ ordnungsgemäß via RfC in das CHM ein, jedoch wurde ihr freundlich aber bestimmt beschieden, dass der Inhalt ihres Artikels leider nicht den beim Morgenpostillon gewohnten Qualitätsmaßstäben genüge. Stattdessen wurde „Ein gemütlicher Abend bei Familie Wu“, eine Restaurantkritik, die sich der Chefredakteur höchstselbst abgerungen hatte, abgedruckt.
Probleme gab es auch mit der Berichterstattung zu Ereignissen, die sich partout nicht so recht mit der 72-Stunden-Regelung eines RfC vertragen wollten. Die Wetterprognose etwa begann ein wenig unter dem Mangel der ihr ansonsten innewohnenden Brisanz und Aktualität zu leiden. Wütende Anrufe der aufgebrachten Hernalser Leserschaft waren die Folge. „Gut möglich, dass es so manchem etwas konservativ erscheinen mag, über das Wetter vor drei Tagen zu berichten“, erklärte uns der Chefredakteur, „aber geben Sie zu: so korrekt, so untadelig, kurzum: so hochqualitativ wie wir, berichtet sonst niemand über dieses Thema!“ Dagegen war schwer zu argumentieren.
Auch an anderen Fronten mussten Zugeständnisse an unser neues Qualitätsbewusstsein gemacht werden. So bat mich der Juwelier Platzek, ich möge doch die Neueröffnung seines Geschäftes am Dornerplatz in zwei Tagen dankenswerterweise im Morgenpostillon der Weltöffentlichkeit ankündigen. Ich würde mein Bestes tun, versprach ich ihm, und tatsächlich, mein Bericht „Ach, wären Sie nur dabei gewesen!“, der pünktlich zwei Tage nach der Eröffnungsfeier in Druck ging, fand im CHM allergrößten Anklang und wurde vom Chefredakteur in höchsten Tönen gelobt. „Bravo, Zwickel! So sieht Qualitätsjournalismus aus.“ Der Tatsache, dass der Juwelier Platzek seither kein Wort mehr mit mir redet, begegne ich gelassen.
Doch auch ich bin nicht frei von Fehlern und Makeln, wie sich zeigen sollte, als ich meinen Artikel „Die waren vielleicht süß!“, die nachträgliche Ankündigung einer in Ottakring stattgefundenen Kleintierausstellung via RfC ins CHM einkippte. Prompt wurde ich vom Chefredakteur in sein Büro zitiert. „Zwickel“, fing er an, „so geht das einfach nicht.“ Ich war verwundert und verwies auf meine vorbildlich prozesskonforme Vorgehensweise. „Artikel“, geruhte der Chefredakteur mich nun aufzuklären, „die von Ereignissen außerhalb von Hernals berichten, müssen doch vor Abdruck ins WÜRGQUATSCH, ins ‚Wiener Überregionale Gremium für Qualität und total superne Changes‘, und dort abgesegnet werden!“ Davon hatte ich noch nie gehört. „Das bedeutet aber eine unglaubliche Arbeitsbelastung für mich“, fuhr der Chefredakteur nun fort, „und deshalb sei bitte künftig so gut, und bleib im Bezirk.“ Ich wurde hochrot und nickte schuldbewusst. Das hatte ich nun wirklich nicht gewollt, und ich gelobte Besserung.
Seit Einführung der neuen Prozesse darf nun mit Fug und Recht behauptet werden, dass der Hernalser Morgenpostillon wieder zu alter Größe zurückgefunden hat, und diese sogar bei weitem übertrifft. Nicht, dass wir inzwischen auch nur noch ein einziges Exemplar verkaufen würden, aber die Qualität unserer Berichterstattung sucht ihresgleichen. Das haben inzwischen sogar schon die Großkopferten im WÜRGQUATSCH kapiert.
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